Die 1. Mai-Traditionen und die frühe kubanische Arbeiterbewegung
Von Marcus Strohmeier
Anders als in den vergangenen Jahren wird am 1. Mai 2020 keine Großdemonstration am Platz der Revolution stattfinden. Statt des Aufmarsches von mehreren hunderttausenden Bewohnerinnen und Bewohnern der Hauptstadt Havanna, wird in diesem Jahr niemand stolz am Denkmal von Jose Marti vorbeiziehen. Wie in anderen Ländern auch werden die Kubanerinnen und Kubaner den 130. Geburtstag dieses heutigen Staatsfeiertages, bedingt durch die Corona-Pandemie, in ihren Wohnungen verbringen. Dennoch ist den Menschen auf Kuba die Tradition des Feiertages, sein Sinn und seine Wirkung gut bekannt. Weniger bekannt ist allerdings, zumindest außerhalb der Karibikinsel, dass Kuba neben Argentinien das einzige Land in Lateinamerika war, welches vor 130 Jahren bereits den ersten 1. Mai beging.
1. Mai 1890: 3.000 marschieren durch die kubanische Hauptstadt
Die Vertreter der Arbeiterbewegung ließen die Öffentlichkeit kurz vor dem Kampftag wissen: „[…] sie haben beschlossen, eine solche Demonstration abzuhalten, damit die Regierung, die Oberschicht und die breite Öffentlichkeit wissen oder einschätzen können, was die Bestrebungen des werktätigen Volkes sind. Sowohl während der Demonstration als auch beim Treffen wird der Geist der Ordnung und Ruhe dominieren, den die Arbeiterschichten in Havanna stets bewiesen haben.“ Wie auch in anderen Ländern, versicherten die Arbeiterinnen und Arbeiter keine Ausschreitungen zu unternehmen wie dies von der Bourgeoisie und der spanischen Kolonialverwaltung zunächst behauptet wurde. Im Gegenteil verlief die ganze Demonstration äußerst friedvoll und die 3.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer konnten, ohne dem Eingreifen der Ordnungsmacht, die Marseillaise singend, durch die Innenstadt der kubanischen Hauptstadt marschieren.
In vielen anderen Ländern der Welt erging es den arbeitenden Menschen an diesem Tag völlig konträr und es kam zu Verhaftungen und sogar zum Tode von Demonstrantinnen und Demonstranten. Gedacht war der von der II. Internationalen in Paris 1889 beschlossene Kampftag vor allem, um der hingerichteten Arbeiter des Haymarket-Aufruhrs in Chicago von 1886 zu gedenken und um die Mächtigen auf die Forderungen des Proletariats aufmerksam zu machen. Im selben Jahr der Ereignisse in Chicago wurde auf Kuba die Sklaverei endgültig abgeschafft und damit kam es auch zu großen Veränderungen in der Sozialstruktur der Insel. Die Masse der Lohnarbeiterinnen und -arbeiter stieg rasch an und es entstanden frühe Organisationen der Arbeiterbewegung in der Tabak-, Zucker- und Hafenarbeiterschaft.
Schon 1878 hatten sich die Tabakarbeiter unter ihrem Vorsitzenden Saturnino Martinez zu einer kleinen, noch illegalen, Struktur zusammengeschlossen. Kurz darauf entstanden auch in zahlreichen Provinzhauptstädten proletarische Zirkel die als Basis für die späteren Gewerkschaften fungierten. Viele dieser Gruppen gaben auch erste proletarische Zeitschriften heraus, so die Druckereiarbeiter in Havanna 1878 mit dem „Boletin Tipografico“ (dt. „Typografische Mitteilungsblätter“), die Arbeiter von Cienfuegos 1884 mit der Zeitschrift „El Obrero“ (dt. „Der Arbeiter“) und auch im US-Exil erschien 1889 in Key West die vom berühmten Arbeiterführer Enrique Roig editierte „La Tribuna del Trabajo“ (dt. „Die Tribüne der Arbeit). Roig war es auch der sich gegen die starke Dominanz anarchistischer Gruppen richtete und klarstellte, dass die Arbeiter der sozialistischen Idee folgen und für deren Durchsetzung eine entsprechende Partei bilden sollten. Der zur selben Zeit im Exil lebende Jose Marti teilte diese Auffassungen nur zum Teil. Einerseits lehnte er den Klassenkampf kategorisch ab, sah aber andererseits in Karl Marx eine wichtige Persönlichkeit dessen Analysen wichtige wissenschaftliche Aufschlüsse boten. Marti sah und kritisierte das Elend der Arbeitenden, hatte aber in die Stärke der noch jungen Arbeiterbewegung nur wenig Vertrauen. Dennoch verband ihn mit der arbeitenden Bevölkerung der Wunsch nach der Befreiung der Heimat von den spanischen Kolonisatoren.
Generalstreik am 1. Mai 1892
Stets standen die von Madrid aus angeleiteten Behörden im Falle eines betrieblichen Disputs auf der Seite der Arbeitgeber. Erst die große Streikbewegung von 1888 in den Tabakfabriken Havannas brachte den ersten Erfolg gegen die autoritären Strukturen. Ein Ergebnis davon war das Gesetz über die Vereinigungsfreiheit das ebenfalls 1888 verkündet wurde. Der erste landesweite Arbeiterkongress im Jänner 1892 stellte klar, dass zwischen dem Kampf für die Verbesserung der Arbeits- und Lebensumstände wie auch der Befreiung Kubas nicht unterschieden werden sollte. Die persönliche Freiheit musste mit jener des ganzen Volkes einher gehen. Gestärkt durch die positive Tagung beschlossen die Delegierten der Konferenz am 1. Mai 1892 nicht nur zu demonstrieren, sondern auch einen Generalstreik gegen die Unterdrückung zu beginnen. So versammelten sich an diesem Tag allein in Havanna über 5.000 Menschen, der angekündigte Streik wurde allerdings mit besonderer Brutalität von der Kolonialverwaltung unterdrückt.
Der 1895 begonnene so genannte Dritte Unabhängigkeitskrieg endete schließlich mit der Intervention der USA und der Besetzung Kubas durch den nördlichen Nachbarn Ende 1898. Zwar musste Spanien die Unabhängigkeit der ehemaligen Kolonie anerkennen, aber die junge Republik stand ohne Zweifel unter Führung der Vereinigten Staaten. Die nationale Bourgeoisie hatte mit den USA eine neue Schutzmacht erhalten und nutzte dies dankbar in den Auseinandersetzungen mit der Arbeiterschaft. Auf diese Situation wiesen zahlreiche Vertreter der Bewegung hin, allen voran der charismatische Marxist Carlos Balino. Seine Sozialistische Arbeiterpartei veranstaltete am 1. Mai 1906 eine beeindruckende Kundgebung in Matanzas auf der er offen den Herrschenden mit einer „russischen Antwort“, analog zur Revolution der russischen Arbeiterinnen und Arbeiter von 1905, drohte.
In den Jahren bis zum Ende des Ersten Weltkrieges wuchs die Zahl der Lohnarbeitenden auf Kuba stark an und erreichte Ende 1918 beinahe eine Million Arbeiter. Da die Arbeitsumstände und die schlechte Bezahlung der Werktätigen unvermindert anhielt gab es im November 1918 einen Generalstreik, der auf der ganzen Insel spürbar wurde. Die nationale Oberschicht und die Regierung wussten sich dagegen nicht anders zu helfen als die USA um militärische Intervention zu bitten. So entsandte das State Department mehrere Kriegsschiffe nach Havanna. Doch auch diese Machdemonstrationen konnten das Proletariat nicht gänzlich aufhalten. Während des gesamten Jahres 1919 kam es zu weiteren Streikbewegungen und damit verbundenen Repressalien der Regierung. Bei einer der Auseinandersetzungen wurde der Arbeiter Robustiano Fernandez erschossen und zu seinen Ehren führte die Demonstration des 1.Mai 1919 an sein Grab. Die anschließende Manifestation war die bisher größte in der Geschichte Kubas und wurde von den Vertretern der Arbeiterbewegung zur Ausrufung eines weiteren, später brutal unterdrückten, Generalstreiks genutzt.
Widerstand gegen die Diktatur
Dem 1. Mai 1920 folgte eine mehrtägige Arbeitsniederlegung, um die im Vorjahr inhaftierten Streikenden frei zu bekommen. Die Maifeiern wurden so zu einem großen Erfolg als nur wenige Tage danach viele der gefangenen Arbeiter pardoniert wurden und aus der Haft kamen. Nicht umsonst wurde der Erste Mai als Kampftag der Arbeiterklasse tituliert, in Kuba entsprach dies auf jeden Fall den Tatsachen. Mit dem Beginn der Machado Diktatur im Jahr 1925 begann wieder eine Zeit der Illegalität und der massiven Unterdrückung für die organisierte Arbeiterschaft. Über lange Jahre waren jegliche Handlungen der Gewerkschaften und fortschrittlicher Parteien streng verboten. Erst im März 1930, mit der Ausrufung eines Generalstreiks gaben die Werktätigen wieder ein unmissverständliches Zeichen gegen den Faschismus und für die Demokratie ab. Mehrere hunderttausend Kubanerinnen und Kubaner beteiligten sich, trotz der Repressalien durch die Geheimpolizei und des Militärs, an den Kampfmaßnahmen. Dem Mut der im Untergrund organisierten Arbeiter ist es zu verdanken, dass der Widerstand bis zum 1. Mai 1930 anhielt. Jetzt schlug das Regime mit noch größerer Härte zu und die Exekutive eröffnete das Feuer gegen die Streikenden.
Durch eine neuerliche Einflussnahme der USA gelang 1933 zwar der Sturz des Diktators, aber schon nach kurzer Zeit kam eine durch den Offizier Fulgencio Batista unterstützte diktatorische Regierung unter Präsident Mendieta an die Macht. Aber auch hier reagierten die Arbeiterinnen und Arbeiter rasch und verwandelten den 1. Mai in eine antiimperialistische und demokratische Manifestation, die allerdings am Abend in schweren Kämpfen mit der Polizei endete. Neuerlich wurden die Organisationen der Arbeiterbewegung in ihren Handlungen eingeschränkt. Erst eine Lockerung der Repression gestatte 1939 die Gründung eines neuen gesamtkubanischen Dachverbandes. Unter der Führung des kommunistischen Tabakarbeiters Lazaro Pena wurde die Konföderation der Kubanischen Arbeiter (CTC) aufgebaut. Auch wurden die Kommunistische Partei wie auch andere progressive Bewegungen wieder zugelassen. Nach der Wahl Batistas 1940 zum Präsidenten Kubas kam es zu einer Zeit in der auch Erfolge für die Gewerkschaften möglich wurden. Verschiedene soziale und arbeitsrechtliche Zugeständnisse konnten in der Regierungsperiode bis 1944 ausgehandelt werden, der 1. Mai wurde sogar zum offiziellen Staatsfeiertag. Die Jahre nach der Abwahl Batistas wurde eine Zeit der ideologischen Auseinandersetzung zwischen der marxistisch geprägten CTC und der reformistischen so genannten authentischen Arbeiterbewegung, die sich im Sinne Martis verstanden.
Die wenigen demokratischen Jahre wurden durch den Putsch von Batista jäh unterbrochen. 1952 wurde aus dem einst demokratisch gewählten Präsidenten ein von den USA gestützter gnadenloser Militärdiktator. Die bisherige CTC-Führung wurde entweder ins Exil vertrieben oder kam ins Gefängnis, eine neue Leitung unter dem Kollaborateur Eusebio Mujal wurde im Gewerkschaftsbund eingesetzt. Die Kommunisten wie auch andere Parteien bekamen Betätigungsverbot und ihre Vorsitzenden mussten ebenso wie die Gewerkschafter fliehen oder wurden von der Staatssicherheit umgebracht. Maifeiern wurden jetzt nur noch zur Huldigung des Diktators abgehalten, die illegale Arbeiterbewegung konnte aber mit ihrer Untergrundpresse die Menschen über die ursprünglichen Ziele des 1. Mai informieren. Immer wieder gab es trotz der drohenden Ermordung der Organisatoren Streiks und andere antifaschistische Aktivitäten. So versuchten die Arbeiterinnen und Arbeiter 1955 und 1957 vergeblich mit einem Generalstreik den Sturz der Regierung herbeizuführen. Der urbane Widerstand allein war allerdings nicht in der Lage die von den USA umfangreich finanzierten Polizei- und Streitkräfte zu besiegen. Erst im Zusammenspiel mit den ab Ende 1956 operierenden Guerilleros unter der Führung von Fidel Castro konnten entscheidende Erfolge erzielt werden. So war es der im Jänner 1959 ausgerufene Generalstreik der gemeinsam mit den Siegen an der Front der Revolution zum Durchbruch verhalf.
1. Mai 1959: Zehntausende für die Revolution
Endlich und erstmals war Kuba tatsächlich von Diktaturen und imperialistischer Einflussnahme befreit worden. Die Werktätigen hatten hohe Erwartungen an die Revolutionsregierung und diese blieben keineswegs unerfüllt. Nur wenige Monate nach den revolutionären Ereignissen bot der 1. Mai 1959 die Möglichkeit die gerade gewonnene Freiheit zu feiern, und um der Welt zu zeigen, dass man die neue Regierung klar unterstützte. Neben den zehntausenden Demonstranten, es war die bis dahin größte Maifeier in Kubas Geschichte, paradierten auch Milizionäre parallel zu den Arbeitern, um die Bereitschaft zur Verteidigung der Demokratie offen zu untermauern. Im Jahr darauf, am 1. Mai 1960, verließen tausende junger Revolutionärinnen und Revolutionäre direkt von den Maiaufmärschen ihre Städte, um zur Alphabetisierung der ländlichen Bevölkerung zu reisen. Der revolutionäre Elan verwandelte den Mai-Festtag in eine selbstbewusste Feier der „neuen Menschen“. Der 1. Mai 1961 stand völlig im Zeichen von zwei nachhaltigen Ereignissen, denn Fidel Castro hatte am 16. April verkündet, dass Kuba von nun an eine sozialistische Entwicklung einschlagen würde und nur einen Tag später musste sich die Revolution gegen die vom CIA finanzierten Invasoren in der Schweinebucht verteidigen. Beide Ereignisse wurden von der arbeitenden Bevölkerung am 1. Mai sichtlich mit großem Enthusiasmus aufgenommen, versprach der Weg zum Sozialismus doch eine umfangreiche Sozialpolitik und der Sieg in der Playa Giron war ein riesiger und nachhaltiger Erfolg gegen den US-Imperialismus.
In den 1970er Jahren wurden die strukturellen Grundlagen eines sozialistischen Aufbaus geschaffen. Als erste Organisation wurde 1971 und 1972 die kubanische Gewerkschaftsbewegung restrukturiert und von Konföderation in Zentrale der Kubanischen Arbeiter (CTC) umbenannt. Ein paar Jahre danach wurde 1975 die Kommunistische Partei Kubas wiedergegründet und vereinte damit die siegreichen Revolutionäre von 1959 und die Mitglieder der alten KP. Im Frühjahr 1976 wurde schließlich als Schlusspunkt die neue sozialistische Verfassung Kubas verabschiedet. Das Volk hatte in einem Referendum darüber entschieden und am 1. Mai 1976 wurde das Ergebnis in einer besonders großen Mai-Demonstration gefeiert. Generell waren die Feiern zum 1. Mai nach dem Sieg der Revolution vermehrt den Erfolgen des sozialistischen Aufbaus gewidmet. Kostenlose Schulbildung, die Alphabetisierung der ganzen Bevölkerung, ein für alle uneingeschränkt zugängliches Gesundheitswesen, betriebliche Vorsorge, gewerkschaftliche Urlaubs- und Freizeitorganisation, alles das waren Errungenschaften, für die die Arbeiterbewegung ein Jahrhundert gekämpft hatte. Aus der Kampfdemonstration wurde mehr und mehr eine stolze Feier des bisher erreichten.
Die Stimmung auf den Maifeiern auf Kuba ist bis heute ungebrochen positiv geblieben. In allen Provinzen und ohne Zwang nehmen jährlich Millionen an den Demonstrationen und Festen teil. Dem kubanischen Temperament wird auch am 1. Mai Rechnung getragen, der Tag der Arbeit wird an manchen Orten wie ein Karneval gefeiert, die Stimmung dabei ist ansteckend und führt jedes Jahr zu Begeisterungsstürmen bei den tausenden internationalen Gästen.
Trotzig und mit zu Fäusten erhobenen Händen marschierten in den Jahren der Spezialperiode die Menschen, um gegen die unmenschliche Blockade und ihre Verschärfung zu protestieren. Denn als Kuba 1989/1990 durch den Zusammenbruch der sozialistischen Staaten Europas rund 90 Prozent der Außenhandelspartner verlor, gerade in diesen Tagen der Not, erhöhten die USA den Druck auf die kleine Karibikinsel.
Aber auch die ökonomische Krise und die verstärkte Propaganda der USA und ihrer Alliierten konnten Volk und revolutionäre Regierung nicht voneinander trennen. Weiterhin ist der 1. Mai auf Kuba also auch ein Tag der Verbundenheit mit der Staatsführung, ein Tag, um der Welt klar zu zeigen, dass die sozialistischen Maifeiern auch in den kommenden Jahren ungebrochen stattfinden werden.
Viva el Primero de Mayo! – Es lebe der 1. Mai!
Marcus Strohmeier ist Internationaler Sekretär des ÖGB & stellvertretender Vorsitzender der Österreichisch-Kubanischen Gesellschaft (ÖKG)